512x512

Neureiche Russen haben den Ahnenkult entdeckt. Für einen Adelstitel ist kein Preis zu hoch

Eine direkte Verbindung zum Zarenhaus schmückt auf Dauer mehr als Luxuslimousinen und Goldketten: Standen Russlands Reiche und Prominente bisher eher auf Materielles wie westliche Designermode, Antiquitäten oder verschwenderische Urlaube an der Côte dAzur, so richtet sich ihre Begierde neuerdings mehr auf höhere Werte: den Nachweis vornehmer Herkunft.

„Es gibt eine riesige Nachfrage nach Adelstiteln“, bestätigt Nikolaj Pokrowskij, Leiter des Archiv- und Informationszentrums der offiziellen russischen Adelsversammlung. Ob Politiker, Sänger oder Geschäftsmann: Für die Titel Graf oder Fürst ist vielen keine Stammbaum-Forschung zu aufwändig – und kein Preis zu hoch. „Da laufen viele Betrügereien. Die bringen auch die echten Aristokraten in Misskredit“, klagt Pokrowskij.

Offiziell existiert in Russland kein Adel mehr, und weil es kein Gesetz gibt, kann sich jeder ungestraft Graf oder Fürst nennen. Echte Edelmänner – nach Enteignung und Sowjet-Schikane heute meist schlecht bei Kasse – bekommen schon mal unmoralische Angebote, ihren guten Namen zu „vererben“. Einfacher geht es auf dem Standesamt: Gegen diskrete Zahlung radieren die Beamten gelegentlich am Namen. Dubiose Adelsvereinigungen und selbsternannte Blaublütige bieten Titel gegen Bares. Phantasie-Urkunden inklusive. Wer es solider will, investiert in Ahnenforschung – zu Sowjetzeiten verpönt, heute Mode. In Moskau bietet etwa eine Projektgruppe namens Dinastija Wühlarbeit in den Archiven an. Preise: nach oben offen. „Kaufen lässt sich nichts“, weist Chef Oleg Popow zwar gegenteilige Gerüchte zurück. „Adel – das ist relativ“, fügt er aber augenzwinkernd hinzu. „Für alles lässt sich ein Beleg finden. In den letzten 20 000 Jahren hat sich die Menschheit so vermischt, dass jeder adlige Vorfahren finden kann.“

Damit der Kunde mit seinen neuen Ahnen Staat machen kann, liefert Dinastija auf Bestellung auch Familienwappen, historische Romane und Ölporträts mit den Vorfahren. Sein Familienwappen will auch der Moskauer Geschäftsmann Wladlen Goziridse bestellen – hat die Suche nach dem Stammbaum doch Erstaunliches zu Tage gebracht. „Bis ins 5. Jahrhundert lassen sich adlige Verwandte zurückverfolgen“, schwört der 33-jährige Bauunternehmer. „Es gibt auch Verbindungen zu Dschingis Khan und europäischen Adelshäusern.“

„Es sind vor allem erfolgreiche Männer, die Ahnenforschung betreiben“, berichtet Marina Mironowa, Ahnen-Expertin beim privaten Moskauer Institut für Öffentlichkeitsarbeit. Viele Neureiche sind aus zweifelhaften Quellen zu Geld gekommen und ziehen es vor, über ihre jüngere Vergangenheit zu schweigen. „Sie wollen auch etwas haben, worauf sie stolz sein können“, glaubt Mironowa. „Ihren Kindern nicht nur Geld vererben, sondern auch etwas Bodenständiges. Sinn und Tradition.“

FOCUS-Online-Autor Boris Reitschuster